von Oliver Lenz
„Wie geht es dir?“, fragte er euphorisch. Sie neigte den Kopf und erwiderte leise: „Mir geht es gut. Wirklich.“ Ihre umgehend folgende Frage nach seiner Frau verwunderte ihn. Lenkte sie ab? Oder war das etwa ein Thema für sie? Nach so langer Zeit? Sein Interesse galt jetzt aber ihr, die er einst so verehrt hatte: „Erzähl, was treibst du so?“ Sie wirkte immer noch etwas peinlich berührt.
„Naja, ich hab zu Ende studiert und arbeite jetzt für eine Redaktion. Die haben mich hierher geschickt, damit ich diesen jungen aufstrebenden Politiker interviewe.“
„Was, den Patel? Lucas? Der war doch mit uns in der Schule.“
„Ja. Mein Chefredakteur glaubt, der könnte es noch ganz weit bringen. Mit seinen 30 Jahren ist er einer der jüngsten Bürgermeister in ganz Bayern.“
„Ey. Nehmt euch ein Hotelzimmer!“, tönte es mit tiefer Stimme aus einem beigen, mit Werbung beklebtem Auto, das knapp neben ihnen über das Kopfsteinpflaster rumpelte.
„Das ist immer noch eine Fußgängerzone, du Depp, du depperter“, rief Peer dem Taxi lauthals hinterher.
Stephanie kicherte leise. „Den Dialekt wirst du auch nicht los, oder? So sehr du dich auch bemühst.“
„Ach,“ winkte er ab , „der Eisinger is halt a Depp.“
Jetzt musste er selbst schmunzeln.
Ohne es zu wollen hatte dieser Depp das Eis gebrochen.
Peer traute sich zu fragen: „Wollen wir einen Kaffee trinken? Wir haben uns bestimmt noch viel zu erzählen. Immerhin haben wir uns seit Jahren nicht gesehen.“
„Peer“, sagte sie ernst, „ich hab keine Zeit. Ein anderes Mal vielleicht. Vielleicht sollten wir das aber auch gar nicht tun.“
Sein alberner, aber sympathischer bayerischer Humor wollte ihn irgendetwas Dummes sagen lassen, doch seine Vernunft lenkte ihn um: „Vielleicht hast du recht. Die Zeiten haben sich geändert. Wir haben uns geändert.“
Er registrierte eine leichte Feuchtigkeit in ihren Augen.
Mit gespielter Wut beendete sie das Gespräch: „Wir sehen uns.“
Sie ging um ihn herum und verschwand in einem Lederhosengeschäft um zwei Sekunden später wieder heraus zu kommen. Sie sah ihn emotionslos an, wandte sich ab und ging forschen Schrittes in irgendeine Richtung davon.
„What the…“, dachte er.
Was war da gerade passiert?
Er fragte sich, ob er etwas falsches gesagt hatte.
Oder ob er ihr hätte widersprechen sollen.
Hatte sie wirklich Pipi in den Augen gehabt?
Wenn ja, warum?
„Na. Tussi weg, Peer traurig?“, lachte der Depp aus seinem Taxi, das dieses Mal neben Peer angehalten hatte.
„Legg mi doch am Orsch, Eisinger,“ maulte Peer in das geöffnete Beifahrerfenster des Taxis. Er drehte sich um und schlurfte davon, in die entgegengesetzte Richtung, als die in der seine Stephanie verschwunden war. „Meine Stephanie,“ dachte er, „das war lange vorbei.“
Wie ein kleiner Junge, der vor hatte jemandem einen Streich zu spielen sah er sich um. Links niemand, rechts niemand, hinter ihm niemand. Er ignorierte die Nackenschmerzen, die sich kurz zeigten, als er rücklings über die Holzbank, auf der er saß, geblickt hatte. Keiner da. Er zündete sich eine Zigarette an.
Seitdem Julia, seine Frau, ihm das Rauchen verboten hatte, passten alle in dem Städtchen auf ihn auf. Sie würden ihn rügen, mit ihm schimpfen und es vor allem Julia erzählen, wenn sie ihn rauchen sehen würden.
Gedankenverloren sah er dem kleinen Fluss zu, wie er sich seinen Weg bahnte. Unaufhaltsam plätscherte das Wasser um ein paar Steine herum, die darin lagen und zum Teil aus dem Wasser ragten. Man hatte sie absichtlich dort platziert, eben damit es plätscherte. Das sei beruhigend, hatte man diese Aktion argumentiert. Peer hatte es besser gefallen, als der Fluss noch schwieg.
Als der Fluss noch schwieg, das war die Zeit, als er mit Steffi hier saß. Nicht genau hier, aber am Fluss. Etwa einen Kilometer weiter flussabwärts, kurz vor der Brücke, wo es eine ungepflegte Wiese gab. Hohes Gras, wilde Blüten, geschäftige Bienen, tollpatschige Grashüpfer. Er vermisste die Zeit. Ihm war nicht bewusst, ob er auch Stephanie vermisste, doch wenn er an die Zeit zurück dachte, war sie immer ein Teil davon.
Als er ihr damals sagte, er würde sie nicht mehr lieben und sie hätten keine Zukunft zusammen, war das nicht nur irgendeine Lüge. Es war die größte Lüge seines Lebens, bis dahin. Er hatte sie sehr wohl noch geliebt. So sehr, dass er bereit war sich und sein Glück für sie zu opfern. Ihren Traum, Journalistin und später Schriftstellerin zu werden, konnte sie nur verfolgen, indem sie auf ihn verzichtete. Ihm war bewusst, dass sie das nie tun würde. Also hatte er die Entscheidung getroffen, die ihr ihren Weg ebnete.
Dieser Blick von ihr. Dieser kleine Moment. Dieser Sekundenbruchteil. Vorhin, als sie ihn ansah. Als sie, so glaubte er, leicht feuchte Augen hatte. In diesem kleinen Augenblick fühlte er sich, als wäre sie nie weg gewesen. Als wäre alles noch so wie damals.
Es war keine neue Verliebtheit, die aufkeimte. Es war die alte Liebe, an die sich sein Herz erinnerte und die mit einem einzigen Herzschlag wieder da war, als wäre sie nie weg gewesen. Das war sie auch nicht. Sie stand nur lange Zeit nicht im Vordergrund. Sie hatte sich bedeckt gehalten.
Verdammt. Stur war er damals. Warum hatte er nicht in Erwägung gezogen mit ihr zu gehen, anstatt sie ziehen zu lassen. Irgendwie hätten sie es geschafft. Auch woanders. Wenn es sein hätte müssen, am anderen Ende der Welt, mitten in der Wüste oder auf dem Grund des Ozeans. Sie waren so stark zusammen. Aber nein, er musste unbedingt die Familientradition weiterführen und hier in diesem Nest bleiben. Scheiß auf Tradition. Scheiß auf Wurzeln. Scheiß auf alles.
Mit einem lauten Schrei ließ er seine Wut auf sich selbst heraus und warf die Zigarette mit aller Kraft in Richtung Wasser. Sie landete, aufgrund der schlechten Aerodynamik, wenige Zentimeter vor seinen Füßen. „Nicht mal das kannst du“, rügte er sich in Gedanken selbst.
Mit den Händen trotzig in den Hosentaschen trottete er nach Hause.
Zu Hause.
Julia.
Ehefrau.
Mutter seiner beiden Kinder.
Die Frau, die er offiziell liebte.
Die Frau, mit der er alt werden wollte – oder sollte.
Die Frau, die er belogen hatte.
„Bis dass der Tod uns scheidet,“ hatte er geschworen.
„Scheiß auf den Tod,“ sagte er leise vor sich hin.
Zwei Frauen hatte es in seinem Leben gegeben. Beide hatte er belogen. Beide hatte er enttäuscht, was eine davon noch gar nicht wusste. Was war er nur für ein Mann? War er überhaupt ein Mann? Nicht eher ein kleiner Junge, der nicht wusste, was er wollte oder wie er das bekommen konnte, von dem er nicht wusste, dass er es wollte?
Er gab sich selbst Schimpfwörter in Gedanken. „Arschloch. Pfeife. Loser. Scheißkerl.“
Sterben wäre jetzt toll. Alles vergessen. Und morgen wieder aufwachen in einer heilen Welt.
Wie sähe die heile Welt denn aus? Julia neben ihm, Steffi verschwunden, alles gut. Und dann? Sehnsucht nach Steffi?
Ok, eine andere Variante: Steffi neben ihm. Julia nicht mit ihm verheiratet. Und seine Kinder? Nicht existent. Auch nicht gut.
Verdammt. Selbst wenn jetzt eine Fee auftauchte mit ihren drei Wünschen, hätte er nicht gewusst was er sich wünschen hätte sollen.
Plötzlich schwenkte er nach links. Direkt in die Kneipe auf dem Marktplatz. Mit entschlossenen Schritten stapfte er zur Bar und klopfte mit der Handfläche darauf.
„Bier?“ fragte der Wirt.
„Nix,“ antwortete er. „Schnaps, awer wos gscheids. Doppelt! Zaggich!“
Der Wirt wagte nicht zu fragen und reichte ihm zaghaft einen Whiskey.
Peer kippte ihn weg, als wäre es Apfelsaft. „Noch ann“, befahl er, während er das Glas auf den Tresen hämmerte.
Nach dem Zweiten entspannte er sich und ließ sich auf dem Barhocker nieder.
„Etz noch a Bier, bitte,“ sagte er merklich leiser.
„Wosn los?“, fragte ihn einer der alten Männer, die hinter ihm an einem Tisch saßen.
Noch bevor er irgendetwas sagen konnte, erwiderte eine andere Männerstimme: „Sei Steffi is widder do.“
„Halts Maul.“ entfuhr es Peer. Er drehte sich zügig um und wiederholte: „Halts Maul.“
„Schreibs an.“ Mit diesen Worten verließ er die Kneipe noch bevor sein Bier serviert war.
Er verbrachte den Abend mit Julia auf der Couch. Sie redeten nicht viel. Nur scheinbar gebannt blickte er auf den Bildschirm. Tatsächlich spannen seine Gedanken immer neue Versionen einer Was-wäre-wenn-Parallelwelt. Er versank in verpassten Gelegenheiten und Wahrscheinlichkeiten.
Schließlich wurde im klar, dass es nichts gab, dass ihm klar werden müsste. Es war längst entschieden. Sein Herz und sein Gefühl hatten ihm längst mitgeteilt wonach er sich sehnte. Sein Verstand protestierte vehement, doch der hatte bereits seine Inkompetenz bewiesen und an Vertrauenswürdigkeit verloren.
Peer versuchte einen Plan auszuhecken, wie er Julia beichten könnte, was er wirklich fühlte. Es gelang ihm nicht. Sie liebte ihn. Sie bot ihm eine Lebensbasis. Sie war das Beste, dass ihm je passiert war.
Und Stephanie vergessen? Auch nicht möglich. Wie auch. Sie besetzte den Platz in seinem Herzen seit seiner Jugend und es sah nicht aus, als ob sie jemals Platz machen würde.
Als er am nächsten Tag die Kneipe verließ, wo er seine Zeche bezahlt hatte, sah er Stephanie. Klar, wie soll es auch anders sein? Das Schicksal muss eine Frau sein, bei dem schrägen Humor.
Sie betrachtete irgendwie ein Schaufenster. Vielleicht verloren oder apathisch oder doch interessiert? Vollkommen egal, er musste ihr jetzt seine Entscheidung mitteilen.
Aus dem Augenwinkel hatte sie ihn registriert und wandte sich sofort ab. Sie stapfte weg von dem Laden. In der Mitte des Marktplatzes hatte er zu ihr aufgeschlossen und hielt sie am Arm fest. Sie drehte sich um und sah ihn wütend an.
„Erinnerst du dich noch an unsere Filmabende?“ fragte er mit ruhigem Ton.
„Ja und?“ entgegnete sie wenig beeindruckt.
„Diese alten Western. Da gab es hin und wieder Szenen, über die du dich so aufgeregt hast. Wenn der Cowboy seinen Hund anschrie oder mit Steinen nach ihm warf. Nicht getroffen, aber doch nach ihm geworfen.“
„Ja, schrecklich diese Idioten.“
„Ich habe dir erklärt warum. Weil er ihn so sehr liebte, dass er ihn dorthin schickte, wo es ihm besser ging, als bei seinem Herrchen: In die Freiheit.“
Peer drehte sich um und ließ sie stehen.
„Du Arschloch,“ rief sie während sie mit zwei schnellen Schritten schon wieder hinter ihm stand. Sie überholte ihn und blieb vor ihm stehen. Bedrohlich zeigte sie auf ihn: „Das kannst du vergessen, dass du hier so einen Abgang hinlegst und mich mit einem Rätsel leben lässt. Ich will schon wissen, ob ich das richtig verstanden habe. Du hast mich mit Steinen beworfen, damit ich ein besseres Leben führen kann als an deiner Seite?“
Er holte tief Luft.
„Sag schon!“ befahl sie, während sie ihm beidhändig gegen die Brust stieß.
Die beiden Streitenden hatten nicht bemerkt, dass sie inzwischen das Interesse aller auf dem Platz anwesenden Menschen auf sich zogen. Die meisten kannten die beiden, wussten um ihre Geschichte. Niemand wagte es etwas zu sagen oder zu tuscheln. Man könnte etwas verpassen. Das laute Gespräch war für die Schaulustigen sogar zu verstehen.
„Ja verdammt,“ schnaubte Peer, „ich habe dich geliebt und ich tue es noch und ich werde dich noch lieben wenn ich schon zu Staub zerfallen bin. Hörst du? Ich habe dich angelogen. Ich habe dich abserviert, damit du deinen Traum leben kannst. Damit du glücklich wirst. Glücklicher als hier. Glücklicher als mit mir. Wenn ich leiden muss, damit du glücklich bist, dann soll es so sein.“
Ihre Wut auf das eben Gehörte entlud sich in einer Ohrfeige, die Peer unbeeindruckt hinnahm. Sie schrie ihn an, er schrie zurück. Die neugierigen Blicke hatten sie immer noch nicht bemerkt, ebenso wenig die Gestalt, die sich aus der Menge schälte. Bedächtig ging sie auf Peer und Steffi zu und blieb direkt neben ihnen stehen. Sie legte ihre Hände auf die Schultern der beiden. Sie registrierten die Berührung zunächst nicht, bis Peer aus einem Gefühl heraus den Kopf drehte: „Julia? Ich..“
„Sag jetzt ja nichts“, fuhr Julia ihn bedrohlich leise an. „Ich wusste es. Ich wusste es immer. Ich kenne dich seit meiner Kindheit. Und ich kenne dich“, sagte sie zu Steffi, „seit meiner Kindheit. Er hat mich nur genommen, weil du weg warst.
Verschwinde!“
Sie wandte sich Peer zu: „Du auch. Verschwindet beide.“
Sie schrie mit aller Kraft ihrer Lungen: „VERPISST EUCH!“ Sie holte zu einem unkoordinierten Schlag aus. Peer duckte sich, drehte sich, schnappte Steffis Arm und begann zu laufen. Steffi stolperte zunächst, hatte aber schnell den Tritt gefunden. Sie rannten.
„VERPISST EUCH!“, wiederholte Julia ihre Anweisung, „LASST EUCH NIE WIEDER HIER BLICKEN!“ Sie ruderte mit den Armen, als wollte sie Steine nach ihnen werfen. Schließlich fiel sie auf die Knie und begann zu weinen.
Peer und Stephanie rannten so schnell sie konnten. Sie bogen in eine Gasse ein und rannten weiter, bis sie am Fluss stehen blieben. Ängstlich blickten sie zurück. Nichts.
„Warum lächelst du?“ fragte Steffi, nach Atem ringend, mit den Händen auf ihren Knien.
„Warum hast du gekichert, als wir rannten?“, fragte Peer, in der gleichen Körperhaltung.
„Es war wie damals, wenn wir irgendeinen Blödsinn verzapft hatten,“ entgegnete sie.
Sie richteten sich auf:
„Peer?“
„Ja?“
„Du weißt was gerade passiert ist?“
„Sie hat uns zum Teufel gejagt?“
„Sie hat ihren Hund mit Steinen beworfen.“
Peer wusste nichts darauf zu sagen. Nachdenklich sah er sie an.
Sie hatte ihren Blick dem Fluss zugewandt, der gemächlich vor sich hin plätscherte.
Dann sah sie Peer an und sagte in ruhigem, beinahe zärtlichem Ton:
„Mir gefiel es besser, als der Fluss noch schwieg.“